Sprechende Hände öffnen Taubblinden den Weg zur Bildung

Angela von Lerber
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Ein Institut für Gehörlose feiert Jubiläum

Anfangs Mai 2014 hatte ich das Privileg, an den Feierlichkeiten zum 50-Jahr-Jubiläum des Holy Land Institutes for the Deaf in Salt, Jordanien, dabeizusein. Für rund dreissig der hundertfünfzig gehörlosen Schülerinnen und Schüler wurde der Workshop mit dem spanischen Pantomimen Carlos Martínez zum Höhepunkt der Festivitäten. Das Eis zwischen dem Künstler aus Europa und den arabischen Gehörlosen war schnell gebrochen.

Text: Angela von Lerber

Gebärdensprache und Pantomime – zwei Welten reichen sich die Hände

Sprachende HändeIn der Turnhalle des Instituts zeigte der Künstler die Bewegungen vor. Die Schülerinnen und Schüler imitierten. Seine Anweisungen gab der Mime auf Englisch, der Institutsleiter übersetzte in die arabische Gebärdensprache. Es mag erstaunen, dass Pantomime und Gebärdensprache zwei völlig unterschiedliche Welten sind. Gebärdensprache kommuniziert über Symbole. Nur wer den Code kennt, versteht. Und dieser gilt bei weitem nicht international. Schweizer Gehörlose zum Beispiel zeichnen mit der Hand ein Schweizerkreuz in die Luft, wenn sie unser Land meinen. Jordanische Gehörlose dagegen zeigen auf ihr Handgelenk, denn ihnen dient die Armbanduhr als Sinnbild für die Schweiz. Gebärdensprache ist kulturbezogen und kennt genauso verschiedene Sprachen wie die gesprochene Sprache.

Die Kunst der Pantomime dagegen ist universell. Jeder versteht sie, sprachunabhängig, überall auf dieser Welt – Hörende wie Gehörlose. Die Figur auf der Bühne zeigt Objekte und Handlungen. Welche Bilder, Farben und Emotionen durch ihr Spiel in den Köpfen der Zuschauer entstehen, ist nicht nur kulturell, sondern von Mensch zu Mensch verschieden. So schafft ein und dieselbe Bühnenszene eine Vielzahl an individuell gefärbten Geschichten, deren Essenz dennoch von allen verstanden wird.

Taub, blind und trotzdem hörend und sehend

Etwas abseits vom Geschehen inszenierten zwei Frauen den faszinierendsten Dialog, den ich je beobachtet habe. Es sind eine junge Betreuerin aus Europa und eine taubblinde Jordanierin, die gehörlos geboren wurde und schliesslich mit zwanzig Jahren auch noch ihr Augenlicht verlor. Die nächsten fünfundzwanzig Jahre verbrachte sie mehr oder weniger stumpf im Dunkel des Hauses bei ihrer Familie. Bis sie im Holy Land Institute Aufnahme fand und eine Ausbildung nachholen konnte. Seit vier Jahren lebt sie nun hier und hat völlig neue Möglichkeiten für sich entdeckt. Aktuell lernt sie, sich frei und ohne fremde Hilfe mit dem Blindenstock im Gelände zu bewegen. Längst hat sie ihrerseits die Verantwortung für einige der Kleinkinder übernommen.

Auch sie nahm am Pantomime-Workshop teil, und ich beobachtete fasziniert, wie sie dank der Hilfe ihrer Betreuerin kein Detail verpasste.

Sprechende Hände

Von Taubblinden sprechen lernen

Die Aufgabe des Mimen lautete: Denk dir ein Objekt aus und stelle es dar, indem du es in Bezug zu deinem Körper setzst – sodass deine Körperbewegungen das Objekt inszenieren. Die Betreuerin fasste die taubblinde Teilnehmerin an beiden Händen, so dass diese die Gebärdensprache der „Übersetzerin“ nachvollziehen konnte. Handfläche an Handfläche begann nun ein ständiger Abgleich im Kommunikationsprozess: „Verstehst du, was ich meine?“ – „Meinst du es so?“ – „Nein, nicht ganz, ich zeig’s dir nochmals“. – „Ach, so war das gemeint!“ – „Ja, genau. Welchen Gegenstand möchtest du gerne darstellen?“ – „… – Ich wähle eine Halskette!“ – „Also gut, leg sie mir um den Hals, nimm sie anschliessend wieder ab und lass die Kette von der einen Hand auf die offene Handfläche der anderen Hand gleiten.“ – „Das ist eine wunderbare Idee, lass es uns versuchen!“ – „Bravo, das hast du gut gemacht. Versuch es gleich nochmals!“

Was wir von Taubblinden lernen können

Die beiden Frauen waren in einen intensiven Austausch vertieft, bei dem es nicht den geringsten Raum für Missverständnisse gab. Oder anders gesagt: das potenzielle Missverständnis als Normalfall war fester Bestandteil ihrer Kommunikation. Und wurde damit ausgeschlossen. Nach jeder einzelnen Geste prüften die beiden Dialogpartnerinnen unmittelbar nach der Ausführung, ob sie auch verstanden worden war. Die beiden Händepaare standen in einem ständigen Austausch und versicherten sich fortlaufend gegenseitig, ob die Nachricht richtig angekommen war.

Ich musste an unsere nachlässigen Kommunikationsgewohnheiten im Alltag denken – an die häufige Einwegkommunikation – weil Nachfragen ja „unnötig“ viel Zeit frisst. Und weil wir sowieso schon alles zu wissen glauben. Schade, dass uns dabei entgeht, wie schnell aus Missverständnissen vermeintliche Tatsachen werden, die unsere Meinungen prägen, und die so schnell nicht wieder aus der Welt zu schaffen sind. Im Zuhören zumindest haben Taubblinde uns trotz – oder gerade wegen – ihrer Einschränkung wohl einiges voraus.