Angela von Lerber ist das Gesicht hinter phil-rouge: Sie konzipiert, schreibt und kreiert Content für On- und Offline-Publikationen.
Storytelling als Methode in der Altersarbeit
23.3.2017, von Angela von Lerber

Das Erzählcafé für Menschen ab 60 Jahren
Storytelling ist in aller Munde. Wer interessiert sich schon für nackte Fakten? Und so sind Kommunikationsprofis denn ständig auf der Jagd nach der ultimativen Geschichte, die anschaulich transportiert, was Sache ist. Doch es gibt ursprünglichere Formen des Storytellings. In der sozialen Arbeit zum Beispiel, wo Menschen im Rahmen von Erzählcafés Vergangenes aufleben lassen und dadurch Momente der Wertschätzung erfahren.
Kürzlich nahm ich als Gast an einem solchen Anlass teil. Gabriela Giger, Altersbeauftragte der Gemeinde Richterswil, bietet seit 2013 Erzählcafés für Personen ab 60 Jahren an. Da ich für ein eigenes Projekt am Recherchieren war, durfte ich für diesen Nachmittag das Erzählthema einbringen. Die zwei Stunden des kollektiven Erinnerns entpuppten sich für mich als wahre Fundgrube. Doch weit darüber hinaus konnte ich miterleben, wie bereichernd das Erzählen und Zuhören sein kann. Im Interview gibt Gabriela Giger einen Einblick ins Format des Erzählcafés:
Erinnern, erzählen, wertschätzen
Das Interview mit Gabriela Giger, Altersbeauftragte der Gemeinde Richterswil:
Gabriela Giger, was ist das Wesen des Erzählcafés, worum geht es?
Das Erzählcafé ist eine Biografiemethode der sozialen Arbeit. Es sind Lebensgeschichten, die hier erzählt werden. Menschen kommen zusammen und teilen ihre Erlebnisse zu einem bestimmten Thema. Es geht nicht darum, wer etwas besser weiss oder andere darüber denken. Es wird auch nicht diskutiert, sondern eigene Lebenserfahrungen und erlebte Episoden erzählt. Meine Aufgabe ist es, diese Gesprächsrunden zu moderieren und einen Raum zum Erzählen zu schaffen.
Was hat dich bewegt, ein solches Angebot ins Leben zu rufen?
Ich finde es interessant zu hören, wie unterschiedlich das Leben verlaufen kann, was es bedeutet, dass jemand zum Beispiel als Mann geboren wurde oder als Kind während des Krieges gelebt hat. In diesen Momenten wird mir bewusst: So, wie ich das Leben lebe, ist nur eine Variante von vielen.
An diesem Nachmittag kamen auf 8 Frauen 2 Männer. Ist Erzählen Frauensache?
Vielleicht hat es auch mit dem Alter zu tun. Das Alter ist nun einmal weiblich. Es gibt mehr alleinstehende alte Frauen als Männer. Ich glaube aber auch, dass Frauen schon im früheren Lebensalter verstehen, wie wichtig das Erzählen – auch schwieriger Dinge – ist. Die Frauen haben es einfach mehr geübt als die Männer.
Wie kommen die Erzählcafés bei den Teilnehmenden an?
Ich stelle jeweils fest, wie sich im Laufe eines Nachmittags die Stimmung verändert. Diese Lebendigkeit, die aus all den Lebenserfahrungen quillt, lässt die Leute mit einer anderen Mimik hinausgehen als sie gekommen sind. Dass es eben für einmal nicht darum geht, wer besser, schöner, schneller ist, sondern dass jede Erfahrung ihre Gültigkeit hat und nicht bewertet werden muss, tut grundsätzlich jedem gut. Vermutlich wirkt es sogar gesundheitsfördernd. Wenn ich mich mitteilen kann und vom eigenen Leben erzählen, so wie es gewesen ist, mit allem Schwierigen und allem Schönen, wenn ich mich anderen gegenüber öffnen kann, dann hat dies etwas sehr Wohltuendes.
Ist es schwierig, Themen zu finden?
Überhaupt nicht. Jedes Thema eignet sich. Auch Banales, wie etwa „Schuhe“. Weil die Leute etwas erlebt haben und durch die Erzählungen der anderen angeregt werden, ist es überhaupt nicht schwierig. Das Erinnern ist sehr ansteckend! Nehme ich bekannte Weisheiten, Sprichwörter und Redensarten, kann ich noch hundert Jahre Erzählcafé anbieten.
Hast du die Erinnerungen je protokolliert oder aufgenommen, um sie festzuhalten und vor dem Vergessen zu retten?
Das Wesentliche ist, dass jemand in Ruhe erzählen kann. Und dass andere in Ruhe zuhören. Das ist der einfache Trick, warum es funktioniert. Jede und jeder kann etwas beitragen, muss aber nicht. Es gibt keinen Leistungsanspruch. Das Einzige, was man muss, ist zuhören. Das ist in der heutigen Zeit eine grosse Kostbarkeit. Jemand hört mir zu und vermittelt mir das Gefühl, interessant zu sein. Darum geht es.
Mir kam es beim Zuhören vor, als würden wir gemeinsam einen Schatz bergen, der irgendwo in der Versenkung lag. Und dann mussten wir ihn wieder gehen lassen – vielleicht zurück in die Versenkung…
So, wie Erinnerungen eben sind. Interessant ist ja, was wir in Erinnerung behalten und was nicht. Beim Erinnern, sagt man, müsse es eine gefühlsmässige Verbindung geben, damit bestimmte Dinge im Gedächtnis haften bleiben. Insofern handelt es sich bei Erinnerungen um genau diese Perlen. Ich glaube, die halten ewig. Die lassen sich nicht nehmen. Die Frage ist, wie gross dieser Schatz ist und wie oft ich meine Schatzkiste anschauen und sehen kann, was alles drin liegt. Vielleicht bin ich tatsächlich erstaunt, was da alles auch noch liegt. Erzählen ist etwas ganz anderes als schriftliches Festhalten und Konservieren.
Was ist dein Eindruck: Ist Erinnerung etwas, das sich im Laufe der Zeit verfälscht?
Ich kann bei anderen nicht nachprüfen, was verformt ist. Das gelingt mir nicht einmal bei mir. Ich bin aber überzeugt, dass sich mit den Jahren und all den neuen Erfahrungen, die dazukommen, vieles verformt. Ereignisse werden anders ausgewertet und mit anderem verknüpft, sodass sie tatsächlich, wenn man genau nachfragen würde, nicht mehr ganz der Realität entsprechen. Aber ich glaube, dass dies bei Erinnerungen nicht entscheidend ist. Weil es einen persönlichen Grund gibt, warum jemand sich etwas in dieser Art gemerkt hat. Es hat jetzt diesen Stellenwert, so erzählt zu werden und nicht anders. Und ich bin die Person, die die Kompetenz hat, zu entscheiden, wie ich meine Erinnerung jetzt in Sprache fasse.
Leistest du in Richterswil Pionierarbeit oder gibt es viele solcher Erzählcafés in der Schweiz?
Mit dem Netzwerk Erzählcafé, das entstanden ist, hat sich das Format etabliert. Das Netzwerk wird vom Migros Kulturprozent unterstützt, schliesslich ist es ja auch ein Generationenthema. Jetzt wird erstmals aufgenommen, wo überall in der Schweiz Erzählcafés stattfinden. Ich weiss von Kolleginnen, die dies ebenfalls anbieten. Die Methode lässt sich in unterschiedlichem Kontext brauchen, sei es für eine Kulturgeschichte, für eine Dorfgeschichte, an einem Geburtstagsfest, aber auch zur Bewältigung schwieriger Themen.
Welche Qualifikationen braucht es, um ein Erzählcafé zu moderieren?
Es braucht die Fähigkeit, diese Erzählrunden wirklich zu führen. Das Erzählcafé unterscheidet sich von einer Plauderrunde. Die Moderatorin bereitet sich thematisch vor, führt das Gespräch und achtet darauf, dass nicht einzelne die ganze Redezeit für sich beanspruchen. Beim Erinnern kommen manchmal auch sehr schlimme Lebenserfahrungen hoch. Als Moderatorin darf ich keine Angst vor aufbrechenden Gefühlen haben, die hier einen Rahmen haben. Ich muss sicher sein im Umgang mit der Gruppe und ein Auge dafür haben, ob es allenfalls nachträglich eine Begleitung braucht. Das sind Qualitäten, die in einem solch herausfordernden Moment zum Vorschein kommen.
Du hast dich eine Ausbildung gemacht – wo und wie?
Von Beruf bin ich Sozialarbeiterin. Vor ein paar Jahren hat die reformierte Kirche des Kantons Zürich eine Ausbildung für Erzählcafés angeboten, unter der Leitung von Lisbeth Herger, die ebenfalls biografisch berufstätig ist und mit dem Erwachsenenbildner Walter Lüssi. Es war eine sehr schöne Lernerfahrung, weil ich das Gelernte gleich anwenden und daraus lernen konnte. Mit all den theoretischen Kenntnissen, die ich hatte, wurde ich direkt in die Rolle des Moderierens geworfen. Durch diese Art des Lernens konnten wir gemeinsam auswerten, was sich wie bewegt hat, warum sich eine Gesprächsrunde eher schwierig gestaltete und wie es kam, dass ein Thema plötzlich eine ganz andere Richtung nahm, als ich es mir gewünscht hätte.
Seither hat sich Professorin Johanna Kohn an der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) Soziale Arbeit des Themas angenommen. Die FHNW bietet Fachtagungen zum Thema an und die Universität Freiburg führt bereits zum zweiten Mal ein CAS «Lebenserzählungen und Lebensgeschichten» durch.
Ich stelle fest, dass die Erzählcafés, die sich über Jahre hinweg erfolgreich halten, von Personen durchgeführt werden, die solche Gesprächsrunden von ihrer Fähigkeit und Position her gut anleiten können. Viele denken: «So ein bisschen miteinander Erzählen und Kaffee trinken, das kann ich auch.» Es braucht mehr, dass es gut funktioniert. Man muss den Leuten einen Raum zum Erzählen zubereiten, in dem sie bei Bedarf auch geschützt sind. Das macht den qualitativen Unterschied aus. Deshalb finde ich es toll, wenn eine Fachhochschule sich dem Thema Erzählcafé in der sozialen Arbeit annimmt.